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16 6. August 1982 · DM 4.-- · 6S 36.-- · sfr 4.30 · Nr.
Elektronik in Audio und Video, Kommunikation und MeStechnik
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1.Vorberichtsheft HiFiVideo '82

Mikrocomputer

Durchbruch in den Massenmarkt
Das sprechende Buch

Als vor ein paar Jahren mit dem ,,Speak and Spell" der erste sprechende Computer fur Kinder auf den Markt kam, war fur die Sprachsynthese ein Durchbruch in den Massenmarkt erfolgt. Jetzt Eiberrascht Texas Instruments mit einer Entwicklung, die an Bedeutung jenem schon legendaren Schritt in nichts nachsteht.

Als das ,,Speak and Spell" in Amerika auf den Markt kam, beeilten sich alle Manager von Halbleiterfirmen in der Welt, dieses Kinderspielzeug zu erwerben: Nicht zum Spielen natiirlich, sondern fiir eine griindliche Analyse. Selbst erfahrenen Halbleiterstrategen entrang sich unglaubiges Stannen: Sprachsynthese far den Konsummarkt?
Wir haben uns mittlerweile daran gewohnt. Die ersten sprechenden Uhren gibt es seit einem Jahr, Prototypen von Sprachausgabesystemen fiir das Armaturenbrett im Auto waren bereits auf zahlreichen Ausstellungen zu se-

hen. Es ist nur noch eine Frage der weiteren Perfektion und der Kosten, bis wir mit solchen Systemen iiberall konfrontiert werden: am Herd, an der Waschmaschine, an der Heizung und am Schreibtisch. Ob es jedermanns Sache ist, sich an alien Ecken von diesen quakenden Chips ansprechen zu lessen, mag noch dahingestellt sein: Im Auto hat es sicherlich Vorteile, da jeder Buick auf das Armaturenbrett die Aufmerksamkeit von der Stralle ablenkt.
Heimlich, still und leise demonstrierte jetzt Texas Instruments auf der Consumer Electronics Show in Chica-

go eine andere Entwicklung, die im Prinzip technisch gar nicht neu ist -- aber doch in der Form fiir verbrauchernahe Produkte noch nie eingesetzt worden ist: Die Umsetzung von Strichcodes in synthetische Sprache.
Computer ,,Hest" Bucher vor
Unter der Bezeichnung ,,Magic Wand" (etwa: Zauberstab) bietet man einen Strichcode-Leser in Verbindung mit einer Sprachausgabeeinheit an, die man zunachst far Kinder im Vorschulalter und Schulalter entworfen hat. Bunte Bilderbiicher enthalten grope Texte, die gleichermallen als Worte und als Strichcode-Information abgedruckt sind.
Der Code enthalt nicht nur den Sprach- und Silbenduktus, sondern auch die Tonhohenelemente, urn die Worte weitgehend natiirlich zu repro duzieren. Man ist dabei von dem traditionellen Silbencodierer abgegangen und benutzt kleinere Einheiten, die sogenannten Allophone. Auf diese Weise wird die richtige Aussprache der Worte auch dann gewahrleistet, wenn sie sich an unterschiedlichen Stellen des Satzes befinden. So machen weder Frage- noch Ausrufesatze Probleme.
Das Lesegerat selbst benutzt Infrarotlicht, um den Strichcode zu entziffern. Die Arbeitsweise ist ganz ahnlich den Scannern in Supermarkten. TI hat es nur fertiggebracht, einen solchen Leser fiir einen Bruchteil des Preises solcher professionellen Leseeinrichtungen herzustellen.

Zur Technik des ,,Zauberstab"-Lesers

Computerlesbare Biicher -- das konnte einer ganz neuen Geschaftssparte den Weg ebnen,

zumal Fremdsprachenbarrieren dabei nicht existieren.

(Werkfoto)

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Bei der Realisierung dieses sprechendes Lesegerates waren drei Hiirden zu iiberwinden: Eine deutliche Verbesserung der Sprachwiedergabequalitat gegeniiber bisherigen Systemen bei gleichzeitiger Ausdehnung des Vokabulars, die Entwicklung eines preiswerten Lesekopfes sowie ein Strichcode, mit dem moglichst viel Information gespeichert werden kann. Da sich bei der Sprachwiedergabe die Silbenspeicherung als nicht praktikabel herausstellte, blieb lediglich der Weg iiber die Synthese mit Hilfe von Allophonen. 128 verschiedene Grundstrukturen, die iiber die Strichcodebefehle abgerufen werden konnen, sind im Gera abgespeichert. Damit wird es
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auch moglich, aus einer ganzen Phrase nur ein einzelnes Wort herauszulesen. Losgelost von der Sprachwiedergabe lassen sich damit auch Gerauscheffekte, Tone und musikalische Sequenzen zusammenftigen.
Der eigentliche Lesekopf fiir den Strichcode verwendet eine Infrarotdiode, die ihren Strahl durch eM schlitzformiges Fenster von kaum 3µm Breite auf den Strichcode wirft. Die Reflexion vom Papier wird fiber einen Detektor ausgelesen.
Da Man Schwierigkeiten hatte, auf so engem Raum Sende- und Empfangsdioden unterzubringen, werden Glasfaserleitungen benutzt, die direkt zu den Chips im groBeren Teil des Lesekopfes fiihren. Mit diesem hochauflosenden Kopf konnen sehr viel diinnere Strichcodes gelesen werden als bisher. Im Gegensatz zu herkommlichen Strichcodelesern (aber ganz ahnlich wie bei dem Leser unserer Schwesterzeitschrift mc) liegt hier der Lesekopf flach auf dem Papier auf: Far Kinder sicherlich besser zu handhaben als ein Stift. Erste Versuche zeigen, daB sich Kinder die notige Fahigkeit fiir das Parallelfiihren auf dem Strichcode sehr rasch aneignen.
Im Gegensatz zu herkommlichen Strichcodes wird hier eine Menge von zusitzlicher Information gespeichert. Neben den eigentlichen Aussprachehinweisen gibt es Informationen, ob ein einzelnes Wort, eine Phrase oder ein Satz folgt, ob Musik gespielt werden soil (die klingt iibrigens ahnlich einem Holzblasinstrument, wegen der Analogie zum menschlichen Stimmtrakt) oder ob ein Lernvorgang folgt.
Die Speicherdichte des Codes ist erstaunlich: Es werden Blocke von Ein-
zellinien verwendet, deren engster Abstand bis auf 30 iiM heruntergeht. Das setzt gewisse Mindestanforderungen an die Druckqualitat: Moderne Druckausriistungen aber haben bier keine Probleme.
Urn den Scanner richtig zu starten, mul3 eine Markierung an der Spitze mit der entsprechenden gedruckten Marke im Buch zur Deckung gebracht werden. Wird der Lesekopf versehentlich auBerhalb des Barcodes gefiihrt, fordert eM Signal den Bediener auf, noch einmal von vorn zu beginnen. Das Gera selbst wird mit vier Monozellen betrieben, wobei eine entsprechende Schaltung dafiir sorgt, daB bei langeren Bedienungspausen das Gera in den Standby-Betrieb zur Batterieschonung heruntergefahren wird. Als Zusatzgerat gibt es einen Netzadapter.

Mehr als 200 000 Worte aussprechbar
Anders als im ,,Speak and Spell", das mit einem festen Vokabular arbeitet, bietet die Auflosung in Allophone einen schier unbegrenzten Sprachschatz.
Vergleichbar ist diese Technik mit der Erfindung Gutenbergs. Als er die Moglichkeit entdeckte, beliebige Worte aus einzelnen Lettern zusammenzustellen, war der Weg frei fiir die gedruckte Reproduktion selbst umfangreichster Texte. Da die Allophone sozusagen Urelemente der akustischen Sprache sind, gibt es keine Grenzen hinsichtlich des Zusammenfiigens zu neuen Worten oder anderen Betonungen.
Sogar das Fremdsprachenproblem laBt sich losen, indem man die fiir andere Sprachen typischen Allophone kurzerhand mitabspeichert. Das Aufrufen and Zusammenfiigen zu synthetischer Sprache wird ohnehin durch den gedruckten Strichcodes veranlaBt. Im Augenblick sind noch nicht alle Konsequenzen dieser neuen Technik abschatzbar. Es bieten sich namlich vollig neuartige Moglichkeiten fiir den Unterricht an, insbesondere in Landern mit hohem Analphabetentum. Auch fur diejenigen Sprachen, die mit Schriftzeichen statt Buchstaben arbeiten, kOnnte man hiermit an Instrument fur neue Lerntechnologie in die Hand bekommen.
In Konsequenz geht Texas Instruments -- well auch zunachst nur im Bereich der Kinderbiicher -- noch in diesem Jahr in das Verlagsgeschaft
Das eigentliche elektronische Gera selbst hat etwa den Durchmesser einer Langspielplatte und ist 5 cm dick. Eine Griffmulde zum Tragen macht es transportabel. Eingebaut ist ein Lautsprecher sowie die Aufnahmemulde fin den Lesekopf. Einziges Bedienungselement ist der Ein/Aus-Knopf fur die Inbetriebnahme. Es geniigt ein einmaliger Druck und das Gera antwortet (in Englisch): ,,Ich bin der Zauberstab-Leser. Komm, lies mit mir." Alles, was jetzt noch zu tun bleibt, ist: Den Lesekopf auf den Strichcode setzen und bis zum Ende der Zeilen ziigig hinwegfiihren.
TI beabsichtigt, sieben verschiedene Buchserien aufzulegen, wobei jedes der Biicher etwa 12 Dollar kosten soil. Die auf kartonstarkem Material gedruckten Biicher haben mindestens 48 Seiten. Sie lassen sich vollstandig um

180 Grad aufklappen, um dem Lesekopf eine plane Abtastflache zu bieten.
Das Unternehmen geht davon aus, daB auch andere Verlage rasch in dieses Geschaft einsteigen werden. Der Druck ist problemlos, da keine speziellen Einrichtungen benotigt werden. Fiir das Gera selbst hat man als Preis erst einmal 120 Dollar festgelegt. Lieferungen will man im Spatherbst aufnehmen.
Was die Zukunft noch bringen kann
LaBt man die Phantasie einmal schweifen, so liegen Anwendungen nahe, die sich bisher ausgeschlossen haben. TI selbst plant den Einsatz des Gerates als Zusatz ftir seine PersonalComputer:
Das konnte dazu fiihren, daB schon Kinder im Vorschulalter mit Vaters TI 99/4A umgehen k6nnen. Da man mit diesen Rechnern ja auch logische Spiele programmieren kann, wiirde die Anwendung von Heimcomputern fiir Kinder so selbstverstandlich werden wie die Benutzung des Telefons.
Insbesondere aber diirfte die Entwicklung des ,,Zauberstabs" den Tascheniibersetzern neue Impulse verleihen, urn die es in der letzten Zeit recht still geworden ist. Eines der Probleme bei diesen handlichen Geraen war nanlich, daB die Ubersetzung nur auf einem Zeilendisplay dargestellt wurde.
Jetzt konnte man kleine Reisefiihrer herausgeben, in denen die zu stellende Frage oder Au&rung in der Muttersprache abgedruckt ist und die zugeh6rige Ubersetzung in der gewiinschten Sprache als Strichcode darunter. Die Maschine wiirde dann die richtige phonetische Obersetzung in die Fremdsprache iibernehmen.
Alle bisherigen Losungen (in der Bundesrepublik haben Siemens und Langenscheidt mal iiberlegt, gemeinsam einen elektronischen Ubersetzer herauszubringen) werden in Anbetracht der veranderten Situation jetzt sicher neu iiberdacht werden.
Klaus H. Knapp
Stichworte zum Inhalt
Sprachausgabe, Strichcodeleser, Sprachsynthese mit Allophonen

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